KONZERT / "Faszination Chormusik" - Kammerchor Reutlingen mit Werken von Mozart und Martin
Schwindelfrei in höchsten Höhen: Der Kammerchor Reutlingen sang in der Kreuzkirche zweichörige Werke von Wolfgang Amadeus Mozart und Frank Martin.
REUTLINGEN Wem gebürte der Blumenstrauß, der am Ende immer weiter durchgereicht wurde?
Letztendlich hatte jeder und jede einzelne Beteiligte ihn verdient - für solistische Leistungen.
Für einen naturgemäß klein besetzten Laien-Kammerchor ist es keine Selbstverständlichkeit,
mehrchörige Literatur aufzuführen. Die Sänger können sich da nicht in "ihrer" Stimmgruppe
verbergen, sondern sind streckenweise allein zu dritt mit ihrer Stimme. Im musikalischen
Blickpunt des durch Lesung und Gebet zum Gottesdienst ausgestalteten Abendkonzerts in der
Kreuzkirche standen denn auch nicht die Abendlieder, sondern die achtstimmingen Werke: das
Offertorium "Venite populi, venite" KV 260 von Wolfgang Amadeus Mozart und vor allem die
Messe für zwei Chöre a cappella von Frank Martin.
Akustisch günstig, in weiter Aufstellung vor dem Chorraum entfalteten die Sängerinnen und
Sänger Mozarts vielstimmige, durchsichtige Klangfülle. Federnd im Metrum und den Text bildhaft
ausdeutend warfen sich die Stimmgruppen die Aufforderung gegenseitig zu: "Venite, populi!
Kommt, ihr Völker!"
Schwindelfrei in höchsten Höhen bewegten sich die Soprane, klar kamen die Begeitstimmen zur
Geltung, instrumental unterstützt von Peter Ammer am Kontrabass und Ulrich Feige an der
Truhenorgel. Chorleiterin Christa Feige ließ Struktur und Aussage durch gezielte Akzente
und Pausen deutlich machen:"Tam grandis - so hoch erhoben!"
Während Mozarts Offertorium für die öffentliche Aufführung im Gottesdienst bestimmt war,
ließ Frank Martin seine zwischen 1922 und 1926 im protestantischen Genf komponierte
katholische Messe bis 1963 in der Schulbade - als "eine Sache zwischen Gott und mir".
Stilistisch schwierig einzuordnen, besticht sie durch eine für diese Zeit schlichte, an
den Kirchentonarten orientierte, harmonisch jedoch komplexe Faktur und ihre Eindringlichkeit.
Man kann diese Messe als leise Meditation aufführen, man kann sie aber auch in ihrem Profil
schärfen. Genau dies tat der Kammerchor unter Christa Feiges lebhafter Leitung. Nach
anfänglichen Unsicherheiten im "Kyrie" fand sich der Chor in gleichsinnigem Schwingen und
Strömen und gestaltete die "Christe"-Rufe als kraftvoll flehende Anrufung Gottes.
Im "Gloria" legten die Sänger transparente Klangflächen zu farbig leuchtenden Schichtungen
übereinander, nahmen das "miserere nobis" weit zurück, um im "Credo" das "Deo de Deo" wieder
aus tiefster Seele aufsteigen und mächtig anschwellen zu lassen, behutsam aufgefangen von dem
in mystisches Licht getauchten "Et incarnatus est", das wiederum die Männerstimmen mit
einem - ganz in Martins Sinne - geradezu brutalen "Crucifixus" konfrontierten.
Plastisch herausgearbeitet wurden die Kontraste zwischen dem verhaltenen "begraben" und
dem jubilierenden "und ist erstanden" sowie die motorischen Qualitäten des "Benedictus";
dynamische Kraft und Tonreinheit verbanden sich im "Sanctus" zu einem bezwingenden Eindruck von
Intensität und Schönheit, Ostinato-Reklamation und Melodie wurden im "Agnus Dei" wirkungsvoll
kontrastiert, gefolgt von der als offene Frage in den Raum gestellten "Dona nobis pacem" -
"Frieden?"
Bewundernswert, wie der Chor ohne instrumentale Stütze, sozusachen frei schwingend und schwebend diese geradezu expressive Deutung vermittelte. Danach wirkten die Abendlieder von Rheinberger, Reger und anderen fast blass. Dennoch bildeten sie, mit viel Ruhe und Ernst vorgetragen, im Licht der Abendsonne einen stimmungsvollen Abschluss.
Mit freundlicher Genehmigung der Reutlinger Nachrichten