KONZERT / Reutlinger Kammerchor

Überirdische Klänge

FünfJahrhunderte, von Venedig über Dresden und Wien bis nach Amerika: Der Kammerchor Reutlingen begab sich in der Gönninger Kirche "Mit Psalmen auf Reisen".

MARION SCHRADE

REUTLINGEN. Ein Psalm ist, seinem griechischen Wortstamm nach, nicht nur ein wörtliches Glaubensmanifest, sondern in erster Linie ein "Gesang".

Die Worte werden auf die Flügel der Musik gehoben. Zu jeder Zeit, von nahezu jedem Komponisten. Giovanni Gabrieli oder Olivier Messiaen: Musik ist Gottesdienst. Der Kammerchor unter der Leitung von Christa Feige nahm die Verbindung von Wort, Klang und religiösem Erleben ernst. Das Konzert in der Gönninger Kirche geriet zum audiovisuellen Erlebnis mit sakraler Tiefe.

Kerzenschein

Warmer Kerzenschein erleuchtet das Kirchenschiff, Sandra MüllerSpude setzt musikalische Linien und dynamische Prozesse in körperliche Gebärde um. Die Tänzerin visualisiert die meditativ-sakrale Bewegung von Morten Lauridsens ,,0 Magnum Mysterium": Ein Tanz der 7 Klänge, ein Fluss der Bewegung.

Auf ähnliche Weise wird Massenets bekannte "Meditation" - grandios: Alexander Adiarte an der Violine - vom überirdisch-schwebenden Klangerlebnis zur beinahe greifbaren Wirklichkeit. Der Kinderchor des Kammerchors und Sandra Müller-Spude evozieren mit wenigen Mitteln eine wortlose Szenerie.

Doch sind es nicht nur die visuellen Effekte, die dem Konzert eine ganz eigene Atmosphäre verleihen. Es ist vor allem auch das Spiel mit Besetzungen und Raum, das die Sänger und eine kleine Gruppe von Instrumentalisten perfekt beherrschen. Christa Feige postiert ihre Sänger für Giovanni Gabrielis dreichörige Motetten aus den "Sacrae Symphoniae" wirkungsvoll auf den drei Seiten der Empore.

Der Effekt ist gleichermaßen beeindruckend wie historisch: Schon der Komponist selbst machte sich die Architektur und die damit verbundende akustische Wirkung des Doms San Marco zu Venedig zu Nutze. Das zwölfstimmige Klanggeflecht durchwirkt den Raum, fließt von oben herab, um wieder hinaufzusteigen: Eine "musica coelestis", eine himmlische Musik, im wahrsten Sinne des Wortes.

Farbenreichtum

A-cappella-Stücken von Schütz bis John Rutter stellt der Chor großangelegte Werke mit sinfonischer Klangfülle gegenüber. Christiane Falk übernimmt am Klavier den reduzierten Orchesterpart zu Sätzen aus Joseph Haydns "Schöpfung" und Johannes Brahms' deutschem Requiem.

Ulrich Feige errichtet am Kontrabass ein tragkräftiges Fundament. Klavier und Bass deutet auf diese Weise die gewaltige Harmonik und Kraft des Orchesters mit minimalem Aufwand, aber großer Wirkung an. Wohl fehlt es etwas am Farbenreichtum des gesamten Sinfonieorchesters, blass ist der Vortrag deshalb aber noch lange nicht. Es ist die beinahe puristische Note, die die Reduktion im Endeffekt als Bereicherung erscheinen lässt.

Mit Paul Horns Vertonung des wohl bekanntesten Psalms "Der Herr ist mein Hirte" hat der Kinderchor des Kammerchors seinen großen Auftritt. Die klaren Stimmen des Kinderchors, in welchen immer auch eine leicht ätherisch-überirdische Note mitschwingt, werden von Instrumenten begleitet. Blockflöten, Violine und Cello zaubern eine pastorale Aura um den schlichten Satz. Und irgendwie ist Weihnachten danI1 plötzlich nicht mehr so weit weg und in Reichweite der Vorfreude.