Oratorium - Hector Berlioz' Weihnachtsgeschichte "L'enfance du Christ" in der Marienkirche aufgeführt.
REUTLINGEN. Nur wer wagt, gewinnt. Das Tübinger Ärzteorchester hat sich mit dem Reutlinger Kammerchor und der Schola Sine Nomine an eines der ganz heiklen Werke geistlicher Literatur gewagt - und hat gewonnen. Um Berlioz' Weihnachtsoratorium "L'enfance du Christ" geht es, und an die entrückte Klangvision des Franzosen haben die Ensembles am Freitagabend in der Marienkirche zumindest eine beachtliche Annäherung geschafft.
Gleich zu Beginn entrollt sich eine Szene wie in einer Oper: Römische Soldaten unterhalten
sich im nächtlichen Jerusalem, Herodes wird von Albträumen geplagt, Wahrsager mischen sich mit
düsteren Prophezeihungen ein, und alles steigert sich, bis Herodes im rasenden Wahn die
Kindstötung befiehlt.
Subtile Schattierungen, extrem verfeinertes Klangfarbenspiel - da ist die Salome von Richard
Strauss nicht mehr weit. Zuweilen kommen die Musiker hier an Grenzen: Obwohl Dirigent Norbert
Kirchmann allzeit sicher die Spur weist, droht das Klangbild gelegentlich auseinander zu fallen.
An einzelnen Stellen trübt sich auch die Intonation der Holzbläser. Spannend entwickeln Tenor
Joaquin Asiain und Bariton Friedrich Mack den Dialog der römischen Soldaten. Prägnant, aber
mit etwas zu wenig Wucht agieren die Männerstimmen als Chor der Wahrsager. Reiner Hiby als
Herodes singt mit rundem Bass, kann aber die Dämonie seiner Rolle nicht recht ausschöpfen.
Umso überirdischer glänzt das Wunder von Bethlehem. Über mystischen Akkorden der
Truhenorgel wölben sich die Frauenstimmen als "Chor der Engel". In diesen Momenten steht
Berlioz' Vision des Entrückten greifbar im Raum. Stille ist der Urgrund, aus dem diese
Vision Gestalt gewinnt, immer wieder geht das Orchester mutig bis fast zur Unhörbarkeit
zurück. Und schon dröhnt es von draußen "Oh du fröhliche" herein. Mitten im innerstädtischen
Weihnachtsmarktgetümmel ist die vollkommene Stille nicht zu haben.
Insgesamt wird die Umsetzung aber nun dichter und plastischer. Statt als komplexe
Opern-Szenerie erzählt Berlioz die Geschichte nun als Hirten-Idyll. Die heilige Familie
flieht nach Ägypten, Rast im Palmenhain, die Oboen verbreiten Schalmeien-Charme, die
Streicher entwickeln tänzerischen Elan. Sopranistin Ursula Wiedmann und Bariton Friedrich
Mack gestalten als Maria und Josef ein stimmiges Familien-Idyll.
Im dritten Teil wird's nochmal dramatisch. Kaltherzig wird Maria und Josef in Ägypten die
Tür gewiesen. Die heilige Familie droht zu verdursten. Ausgerechnet ein Heide bietet
Unterschlupf. Nun entspinnt sich eine fast schon buffoneske Genre-Szene: Josef und
der Hausvater tauschen sich über berufliche Dinge aus, man plaudert, anschließend gibt's
Hausmusik mit Flöte und Harfe. Als freundlicher Ismaelit macht Reiner Hiby mit seinem
sanften Bass eine viel bessere Figur, und das Intermezzo mit Flöten und Harfe kommt
als feine Kammermusik daher.
Zum Schluss überhöht Berlioz das Geschehen in einer Art Resumee. Joaquin Asiain lässt
als Erzähler seinen Tenor weich ausschwingen, die tiefen Streicher tupfen hauchzarte Töne,
doch ehe die Vision der Stille Gestalt gewinnen kann, mischt sich schon wieder der
Weihnachtsmarkt ein. Sei's drum, das Überirdische ist hienieden eben nur mit
Einschränkungen zu bekommen. Eine eindrucksvolle Aufführung war es trotzdem.
Das Wagnis hat sich gelohnt und wurde vom Publikum mit viel Beifall belohnt. (GEA)
Mit freundlicher Genehmingung des Reutlinger Generalanzeigers