KONZERT / in der Reutlinger Marienkirche
Eine schöne Idee, das Konzertleben um eine weihnachtliche Rarität zu bereichern. Norbert Kirchmann dirigierte am Freitag in der Marienkirche Hector Berlioz' "L'enfance du Christ" (Die Kindheit Christi) - das Werk erklang zum ersten Mal in Reutlingen.
REUTLINGEN Ob diese "geistliche Trilogie", wie Hector Berlioz sein Werk beschrieb, mit dieser Aufführung wohl neue Freunde finden oder dem gewohnten "Jauchzet, frohlocket" Paroli bieten kann?
Ein "Weihnachtsoratiorium" ist das nicht, eher ein heterogenes Werk mit opernhaften Zügen:
Dramatisch der erste Teil mit den römischen Soldaten, dem schlaflosen Herodes, dem Kommandanten
Polydorus und den Sehern, eher kontemplativ die beiden übrigen Teile, in denen Hirten singen,
ein Erzähler die Flucht nach Ägypten beschreibt, Maria, Joseph und das Kind Unterkunft in Sais
suchen und freundliche Aufnahme bei einem heidnischen Hausvater finden.
Heterogen gestaltete sich auch die Aufführung des Berlioz-Werks in der Marienkirche unter dem
sachlichen Dirigat von Norbert Kirchmann. Verkörperten die Solisten Ursula Wiedmann, Reiner Hiby
und Friedrich Mack stimmschön Maria, Herodes, den Hausvater, Josef und Polydorus, fiel
Joaquin Asiain als Erzähler und Zenturio mit seinem extrem tremolierenden Timvre aus dem Rahmen.
Stimmlich homogen hingegen agierten die beiden Chöre (der Reutlinger Kammerchor und
"Schola sine nomine"), die sich für diese Aufführung zusammengetan hatten. Sie vermittelten
mit ihrem Können und ihrem Engagement eine Ahnung von Berlioz' Klangzauber. Himmlisch rein
erklang der Chor der Engel zur Orgel, und der mystisch-schlicht verklingende A-capella-Schluss
im allerfeinsten Pianissimo gelang überaus eindrucksvoll.
Das Tübinger Ärzte-Orchester hingegen schien sich mit Berlioz' Klangsprache nicht so recht
identifizieren zu können; sorgsam buchstabierten die Streicher ihren Text, blieben aber
der Eleganz und dem Geist des Werks einiges schuldig, der auch durch die Neu-Übertragung in
prosaisches Deutsch eher verfälscht wurde. "Ruhe nur sanft" beispielsweise durch ein
Entspannungsmöbel evozierendes "Ruhe bequem" zu ersetzen, erscheint fragwürdig.
Für Irritation sorgten darüber hinaus die alten Melodien, die sich vom Weihnachtsmarkt draußen
in sämtliche Piano-Passagen und Pausen hereindrängten und Berlioz' theatralisch-innige
Weihnacht-Legende umso fremdartiger erscheinen ließen.
Man fand manches wie das liebliche Duettieren der Flöten vielleicht sehr hübsch, aber die
innere Bewegung hielt sich in Grenzen, wie auch die musikalische Bewegung im Orchester über
weite Strecken annähernd still stand. Eine statische Auffassung prägte die Aufführung,
abgesehen von den Ensembleszenen, denen Chor und Solisten differnzierte Darstellung, Wärme
und Lebendigkeit zuteil werden ließen, wie dem zärtlichen "Liebes Kind, Gott soll dich segnen"
oder Marias Arie "Mein süßes Kind, die zarten Halme"
"Man hat die Taschentücher nass geweint", sagte Berlioz. Worüber? Über das
"Weine nur, junge Mutter, stille Tränen", die teils naiven, von Berlioz selbst verfassten Texte?
Hatten die Ausführenden damals ganz auf Rührung gesetzt?
Die Rezeptionshaltung und der mentale Hintergrund des Menschen um 1860 waren anders;
der heutige Hörer braucht einen neuen Zugang.
Ob der vorsichtig-nüchterne von Norbert Kirchmann und seinen Mitstreitern in diesem Fall der
richtige ist, sei dahingestellt, der Tonträgermarkt bietet gute Interpretationen, die man sich
anhören sollte, wenn man sich mit Berlioz' "geistilicher Trilogie" anfreunden möchte
Mit freundlicher Genehmigung der Reutlinger Nachrichten