Konzert - Kammerchor Reutlingen singt F. Martin
Rhythmische Kostbarkeit
TÜBINGEN. Mit einem anspruchsvollem Werk präsentierte sich der Kammerchor Reutlingen im
Rahmen der samstäglichen Motette in der Tübinger Stiftskirche: Mit der »Messe für zwei Chöre«
des aus einer Genfer Calvinistenfamilie stammenden Frank Martin. Darin kommt dessen starkes
Interesse an rhythmischen Systemen nationaler Musikkulturen zum Vorschein.
Auch die Anreicherung der Harmonie durch Schönberg'sche Zwölfton-Elemente ist bereits gegeben,
mit der Martin von der französischen Musik um 1900 herkommend zu einer eigenen Sprache fand.
Unter Leitung von Christa Feige machte der Chor die abwechslungsreiche, vielfältige Struktur
transparent und füllte sie mit ausdrucksstarker Binnengestaltung. Die Sängerinnen und Sänger
hielten stets die Spannung aufrecht zwischen schwebendem, harmoniereichem Klang und
rhythmischen Eruptionen, die in dieser Messe dicht ineinander verwoben sind. Der Chor
bietet einen recht hellen Klang und zarte, gefühlvolle Tongestaltung, die auch in den Partien
mit starker Dynamik nicht verloren gehen.
Die Stimmführung blieb in dem komplexen Werk stets sauber. Schon im Kyrie stapelt Martin
anfangs die Stimmen bei eng umrissener Melodie quasi aufeinander, um sie dann durch
prägnante Rhythmisierung aufzubrechen in ein nuancenreiches Tongewebe. Das Gloria entwickelt
sich von tänzerischer Leichtigkeit über ein beschwingtes »benedicimus te« zu einem
expressivem »Domine deus«, zu dem die Bässe mit beeindruckend lang gehaltenem Ton
das Fundament lieferten.
Im Sanctus schwebte der Chor mit wogend komponiertem Klangteppich wie der Geist über
den Wassern, aus dem als Fontänen jubilierende Sopran- und Tenormelodielinien aufstiegen.
Das Benedictus rollt über archaisch anmutendem, rhythmischem Sprechgesang daher, aus
dem sich die Töne befreien und in - für den Chor etwas prekäre - Höchstlagen aufschwingen.
Das Agnus dei beginnt mit dem Duktus eines düsteren Gefangenenmarsches, dessen bittende
Melodie im vertrauensvoll strahlendem »dona nobis pacem« mündet.
Solistinnen zur Orgel
Seinen zarten, gefühlvollen Klangcharakter, dem man nur manchmal etwas sauberer umrissene
Geschlossenheit wünschte, stellte der Chor außerdem in einem Choralsatz aus dem 16.
Jahrhundert von Melchior Vulpius unter Beweis sowie mit einem Abendlied von Josef Rheinberger.
Jana Regenauer (Sopran) und Ulrike Dengler (Mezzosopran) traten solistisch zu Orgelbegleitung
auf mit Werken von Mendelssohn-Bartholdy und Rheinberger. Beiden Sängerinnen mangelte
etwas an Kraft und Sicherheit in den Randlagen. Besonders Regenauer braucht ihren
klangschönen, lyrischen Sopran wahrlich nicht so zaghaft präsentieren. Dengler meisterte
ihre runde Stimme souveräner.
Das Publikum ließ sich vom liturgischen Rahmen des Motettenabends, der nach am Schluss
»Stille« vorsah, nicht davon abhalten, dem Reutlinger Kammerchor mit Applaus zu danken.
(sol)
Mit freundlicher Genehmingung des Reutlinger Generalanzeigers