Reutlingen. Die Passionszeit ist markiert durch innere Einkehr und die Konzentration auf geistliche "Nahrung"
Der Reutlinger Kammerchor bot am Freitagabend in der Nikolaikirche einen Vesperkorb dieser Art.
40 Tage lang dauert die Fastenzeit. Von Aschermittwoch bis Karsamstag sind Christen in aller Welt aufgerufen,
Verzicht zu üben und sich so auf das Osterfest vorzubereiten.
Vor rund 60 Zuhörern kredenzte der Reutlinger Kammerchor erstmals in der kleinen Kirche im Herzen der Stadt ein
reichhaltiges, musikalisches Buffet.
Als Vorspeise des dreigängigen Menüs servierte der Chor unter der Leitung von Christa Feige zunächst
"Tristis est anima mea" aus der Notenküche von Johann Kuhnau. Der elegischen und gedankenschweren Motette folgte das
schlicht und trist daherkommende "Ubi caritas et amor" von Maurice Duruflé. Beide Stücke formte der Chor zu einem
ausgewogenen und ausdifferenzierten Moment. Die Zuhörer erlebten in Akustik geronnene Trauer, die, überzeugend
vorgetragen, zum Hauptgang des Abends überleitete.
Mit der Choralmotette "Befiehl du deine Wege" aus der Feder Johann Christoph Altnickols - eines weithin unbekannten
Schwiegersohns und Schülers Johann Sebastian Bachs - förderte der Kammerchor nicht nur selten gehörte Töne aus der
Versenkung, sondern konnte das gesamte Spektrum seines Könnens aufzeigen. Der Chor zeichnete vielstimmig die barocken
Linien nach und verlieh den unmissverständlichen und klar artikulierten Textpassagen jene authentische Haltung, die in
flehenden, aber auch aufbrausenden Teilen fein zum Ausdruck kam. Christa Feiges ebenso wache wie sensible Leitung schuf
ein musikalisches Kaleidoskop menschlicher Gefühlsregungen, deren Glanz einzig durch die, phasenweise etwas
schwachbrüstig agierenden Männerstimmen getrübt wurde. Der Kammerchor wurde dabei durch Christel Meckelein und Gundula
Kleinert an der Violine sowie Sibille Klepper (Viola), Holger Best (Violoncello) und Ulrich Feige (Orgel) begleitet.
Ganz ohne Begleitung dagegen intonierte der Chor anschließend das "Pater Noster". Das A-cappella-Werk Igor Strawinskys
erinnert in seinem schwebenden Charakter an gregorianische Gesänge und hinterließ in der Reutlinger Citykirche eine
meditative und innige Atmosphäre. Der Reutlinger Klangkörper zeigte sich homogen und ausdrucksstark und verlieh dem
Stück eine raumgreifende Präsenz.
Das aufgefahrene Konzert-Menü des Abends wurde zudem durch vielfältige An- und Einsichten angereichert.
Pfarrerin Sabine Drecoll und Ulrike Neher-Dietz trugen hintersinnige Meditationen in Form von Gedichten,
Aphorismen und Erzählungen vor. Texte etwa von Heinrich Böll oder Marie Luise Kaschnitz luden dazu ein, an die
Wand projizierte Gemälde des Mössinger Künstlers Andreas Felger wirken und den Gedanken freien Lauf zu lassen.
So kunstvoll gesättigt, bedankte sich das Publikum vor allem bei dem Reutlinger Kammerchor mit langem und herzlichem
Applaus. Die vom Chor viel gelobte Akustik des Gotteshauses in der Fußgängerzone lässt vermuten, dass es zwar die
erste aber nicht die letzte Visite war - das abendliche Konzert in der familiären Atmosphäre der Kirche machte
jedenfalls Appetit auf mehr.
Mit freundlicher Genehmigung der Südwestpresse