Konzert - Kammerchor bereitet in der Stadtbibliothek mit neuen Volksliedersätzen einen
neckischen Abend
Mit Augenzwinkern
REUTLINGEN. Volkslieder sind altbacken und kitschig? Keineswegs, wenn man dem
Reutlinger Kammerchor am Freitagabend lauscht. Gut, dass der Carus-Verlag ein Chorbuch
deutscher Volkslieder zusammengestellt hat, das von stilistischer Vielfalt geprägt ist. Roman
Schmid - seit Januar der neue Leiter des Chores - wählt zumeist moderne und pfiffige
Bearbeitungen. Kulturpflege und Heimatgefühle in einem neuen Gewand, das sich zumeist als
erfrischend, originell und ausgesprochen witzig entpuppt. Eben diese modernen Sätze graben
Doppelbödiges der Texte aus und fördern völlig neue Interpretationsfassaden zutage.
Passend zu den humorvollen Sätzen präsentiert sich der Chor als bunter Reigen, jedes
Mitglied mit einem andersfarbigen Oberteil. Roman Schmids Hosenträger dürfen derweil ein
knallgelbes Hemd kultivieren. Nun kann der Spaß beginnen. Dem »Feinsliebchen« (»Horch,
was kommt von draußen rein«) wird gleich in zwei Bearbeitungen nachgespürt. Michael
Jäckels Version geht in jeder Strophe auf den jeweiligen Text ein. Der Chor meistert dies
mitsamt der verwickelten Harmonik gut und mit viel Jux. Dieses Augenzwinkern bewahrt er
sich in allen Liedern. Etwa bei Thomas Gabriels »Vogelhochzeit«, wo jede Strophe etwas
Lautmalerisches zu bieten hat. Die Hochzeitsrede des Pinguins (»blu bla blu bla«) ist
irgendwann nicht mehr zu stoppen, der Rabe krächzt gellend und sogar ein Kaffeetopf pfeift.
Komödiantische Qualitäten zeigen sich in Joachim Rohrers spritziger Bearbeitung von »Auf
de schwäbsche Eisebahne«. Eine stampfende und pustende Dampflok wird zum Vergnügen
der Zuhörer, auch wenn das für die Sänger wohl ein Heimspiel war: der Klassiker der
Einsingübungen. Richtig ulkig wird's, als Roman Schmid in breitestem Schwäbisch »sei
Böckle« »dem Konduktör an Ranza na« schmeißen will.
Deklamatorische Meisterleistung
Doch selbst bei homofonen Sätzen wie Max Regers »In einem kühlen Grunde« oder Józef
Swiders »Hab oft im Kreise der Lieben« werden interessante Details ausgemalt. Schmid lässt
seinen Chor bei »sprang« stark absetzen oder die Konsonanten bei »kocht vor Wut«
besonders betonen.
Als wirklich tolles Schmankerl stellen sich die Gedichte zwischen den Volksliedern heraus,
die Michael Stülpnagel ausgezeichnet vorträgt. Romantische Gedichte wie Joseph von
Eichendorffs »Sehnsucht« werden durch ihn zu einem opulenten Klangparadies. Eine
deklamatorische Meisterleistung vollführt er indes mit Ernst Jandls »grüne kuh«. Wirbelnde
Wörter, Anspielungen, Wortspiele - ja, Wortakrobatik! Ein neckischer Abend, ein begeistertes
Publikum. (vara)
Mit freundlicher Genehmingung des Reutlinger Generalanzeigers