Autor: SUSANNE ECKSTEIN, 25.03.2013

Singen gegen den Strom

REUTLINGEN:Das Kreuz und seine christliche Bedeutung standen im Zentrum eines a-cappella-Konzerts des Kammerchors Reutlingen in der Katharinenkirche.

Erst im Januar 2012 hat Roman Schmid den Kammerchor übernommen, nun muss er - aus familiären Gründen -die Leitung wieder abgeben. Doch offenbar hat er in diesem Jahr den Chor auf dessen steter Suche nach Neuem auf seine Weise geprägt, das Konzert in der Katharinenkirche sprach dafür.

A-cappella-Sätze von Heinrich Schütz, Johann Hermann Schein, Johann Crüger und Melchior Franck sowie von Roman Schmid vorgetragene kurze Lesungen zum Thema "Kreuz und Passion" umrahmten ein gewichtiges Zentrum mit einem antiken Kern, dem Hymnus "Crux fidelis" des spätrömischen Dichters Venantius Fortunatus, der als gregorianischer Choral und in verschiedenen Vertonungen noch heute einen bedeutsamen Teil der katholischen Karfreitagsliturgie darstellt. Dessen Text, in dem das Kreuz als "edler Baum" und "süßes Holz" angesprochen wird, wurde von Schmid in einer poetischen Übertragung verlesen, allerdings erst später im Programm, ohne direkte Verbindung zu der improvisierten Variationenfolge über diesen Hymnus in der schlichten, doch harmonisch raffinierten Vertonung von Giovanni Pierluigi da Palestrina.

Mit der vom Dirigenten geführten, meditativen Improvisation wagte sich der Kammerchor weit nach vorne. Jede Chorsängerin, jeder Chorsänger ist dabei gehalten, musikalisch aus der Gruppe herauszustreten und - für normale Chorsänger undenkbar - quasi gegen den Strom zu singen. Es beginnt mit einem Atem- und Stimmengewirr aus Schnaufen, Seufzen, Ächzen, leidend hervorgestoßenem "O crux", gefolgt vom gregorianischen Choral auf diesen Text, ausdrucksstark vorgetragen von Roman Schmid, grundiert durch den Chor.

Die Palestrina-Vertonung wird verfremdet, indem die Singenden spontan und sukzessive eine Silbe festhalten, quasi einfrieren, so dass Palestrinas Ideal-Harmonie in ein schmerzhaft dissonantes Stimmengeflecht verwandelt wird. Einzelworte leuchten auf, ein Summchor verdichtet sich zum Cluster, die 30 Stimmen vervielfachen sich zum üppigen Monumentalklang. Das eherne Chorgesetz der Gleichzeitigkeit wird aufgegeben, die Stimmen laufen selbständig nebeneinander her. Worte wie "Wald", "Kreuz", "süß" treffen auf expressive Glissandi, die Struktur wird kanonartig versetzt. Den Abschluss bildet - sehr effektvoll - Palestrinas Original, gefolgt vom seufzenden Sprechchor. Reichlich Stoff für die Ohren, zum Nachfühlen und Nachdenken! Das mutige Chor-Experiment und die sauber vorgetragenen barocken A-cappella-Sätze litten ein wenig unter den Umständen. So engagiert und sicher die Sängerinnen und Sänger ihren schwierigen Part meisterten, so problematisch war die Raumakustik. Zwar bildet die kleine, reich ornamentierte und liebevoll instand gehaltene neugotische Katharinenkirche optisch einen wunderbaren Rahmen, der wie gemacht scheint für den Kammerchor, doch der Klang wirkt erbarmungslos karg und trocken - es fehlt hier der Nachhall, der die Musik in eine klangvolle, sakrale Aura hüllen könnte.

Dennoch gab es herzlichen Applaus der Zuhörer, und Pfarrerin Ursula Heller schien den Chor am liebsten gleich dabehalten zu wollen; er füllte offenbar eine schmerzliche Lücke und bot seit langem wieder einmal ein richtiges Chorkonzert in der kleinsten Kirchengemeinde Reutlingens.

Mit freundlicher Genehmigung der Südwestpresse