Konzert - Kammerchor in der Katharinenkirche

Gelungenes Wagnis

VON DAGMAR VARADY
REUTLINGEN. Das Kreuz Christi steht in der Passionszeit im Vordergrund. Leid und Trauer sind damit verbunden, doch ebenso die Erlösungsbotschaft. Eine Diskrepanz, welcher der Reutlinger Kammerchor unter der Leitung Roman Schmids in dem Passionskonzert »O crux« am Freitagabend nachspürte.

Die Besucher der Reutlinger Katharinenkirche, und damit auch Pfarrerin Ursula Heller, zeigten sich über das knappe Stündchen voll barocker A-cappella-Chormusik sehr dankbar.
Der Grundstein der Atmosphäre ist bereits zu Beginn gelegt. Bedächtig und ruhevoll warten Chor und Chorleiter auf ihren Einsatz. Um einen experimentellen Mittelpunkt haben sie kostbare Werke von Heinrich Schütz, Johann Hermann Schein oder Melchior Franck gruppiert, die gelegentlich von Texten bekräftigt oder unterstützt werden – Letztere von Roman Schmid mit ausdrucksvollem Mienenspiel vorgetragen. All diese Texte sind getragen von der dankbaren Annahme des Kreuzestodes, der einen Neuanfang, Trost und Balsam spendet und gleichsam als Siegeszeichen dasteht. Begrifflichkeiten wie »süßes Kreuz« oder »Gnadenquelle« unterstreichen den Segen der Erlösung.

Doch nicht nur hell und strahlend ist das Kreuz. Nein, dieses »süße Holz« kann auch ganz anders wirken. Um Giovanni Pierluigi da Palestrinas Hymnus »Crux fidelis« wagt der Chor ein aufschlussreiches Experiment. Noch vor der einstimmig gesungenen gregorianischen Version beginnt ein Pusten und Zetern, ein Gewirr aus in den Raum geworfenen Worten: Jammervolle Klage wandelt sich in Anklage. Palestrinas Hymnus wird sodann immer wieder abgefälscht. Dissonanzen, durcheinandergewirbeltes Notenmaterial, Glissandi, zeitversetzte Einsätze und einzelne gesprochene oder gesungene Worte über einem murmelnden Klangfeld beschwören die misstönenden und niederträchtigen Aspekte des Kreuzestodes herauf. Ein gelungenes Wagnis, die Kehrseite wird aufgedeckt, ein Impuls zum Besinnen, zur religiösen Kontemplation.

Frühbarocke Chorsätze

Mit den kurzen frühbarocken A-cappella-Sätzen Melchior Francks oder Johann Hermann Scheins zeigt Schmid seinen Sinn für sorgfältige Ausarbeitung. Vorweg sei die vorbildliche Aussprache des Chors erwähnt, die von gut ausgesungenen Bögen und engagierter Textgestaltung abgerundet wird. In Johann Crügers Choral »Herzliebster Jesu« ist jede Strophe reiflich bedacht und mit eigenem Gepräge versehen, während in Melchior Francks Motetten die musikalische Rhetorik akzentuiert wird.
Um die Bilanz zu ziehen: Roman Schmid ist fähig, seinen Kammerchor mit krisenfestem Griff auf eine solide Basis zu stellen und in jede Veranstaltung eine eigene Note einzuschalten. Schade also, dass Roman Schmid die Leitung des Chores abgibt und dieses Konzert seine letzte Gemeinschaftsarbeit mit dieser Sängerschaft bildete. (GEA)

Mit freundlicher Genehmingung des Reutlinger Generalanzeigers