REUTLINGEN. Ganz auf ihre Kosten kamen Freunde lateinamerikanischer Musik am Freitagabend in der Reutlinger Stadtbibliothek,
wo der Kammerchor Reutlingen unter der Leitung von Marcel Martinez im voll besetzten Foyer gastierte. Martinez führte auch
durch das Programm der »Reise nach Lateinamerika« und schaffte es als gebürtiger Katalane, dem Publikum die spanischen und
portugiesischen Texte und die Geschichte hinter den Liedern nahe zu bringen.
Lediglich bei »Hanaq pachap kusikuynin« musste Martinez passen. Das Stück, das 1631 in Lima entstand, ist in der Inkasprache
Quechua geschrieben. »Man versteht lediglich das Wort ›dios‹, denn das ist aus dem Spanischen entlehnt, weil es bei dem
indigenen Volk kein Wort für ›Gott‹ gab«, erklärte der Dirigent.
In diesem ersten polyfonen Stück aus Peru, das der Chor mit wunderschönen klaren Stimmen voller Melancholie und Sehnsucht
sang, offenbarte sich auch gleich die historische Problematik. »Obwohl in vielen Ländern das Datum der Ankunft von Christoph
Kolumbus in der Neuen Welt am 12. Oktober 1492 ein Feiertag ist, hatte das Ereignis für die Ureinwohner furchtbare Folgen«,
so Martinez. Auch in den musikalischen Dissonanzen, die vom Kammerchor mit größter Feinheit und Präzision intoniert wurden,
drückte sich der Schmerz aus, wenn beim 1945 entstandenen »Canción de cuna para dormir« des Katalanen Xavier Montsalvatge
einem kleinen schwarzen Jungen versprochen wird: »Der weiße Teufel wird dich nicht mehr auffressen. Du bist kein Sklave mehr.«
Beim Schlaflied »Duerme negrito« (Chile, 1937) werden die Weißen als Drohmittel eingesetzt, wenn ein kleiner Junge, dessen
kranke Mutter auf den Feldern der Eroberer schwer arbeiten muss, nicht einschlafen will. Julia Bernecker und Kerstin Habig
zogen das Publikum mit der Intensität ihres Gesangs in den Bann. Das Lied wurde auch zur Erinnerung an den 1973 im
Militärputsch in Chile ermordeten Victor Jara aufgeführt, zu dessen Paradestücken es zählte.
Doch auch poetische Texte hatten ihren Raum. Mit »De los álamos vengo«, entstanden 1551, besangen die Tenöre die Stadt
Sevilla, in deren Hafen damals Gold- und Silberlieferungen eintrafen. Doch in diesem Fall schwärmt ein junger Mann von
seiner schönen Geliebten, die er in der andalusischen Stadt getroffen hat. »La Reina del placer« (Kuba, 1927) beschreibt
»Übersee« als Sehnsuchtsort mit den schönsten Mädchen. Um Liebe ging es auch bei »Azulao« (1941), auf Portugiesisch zart
und sanft gesungen, in dem ein kleiner Vogel zum Liebesboten wird. »Caramba« (Venezuela, 1937) erklang ebenfalls a cappella,
sehr konzentriert und mit begeisternd sauberen Tönen in einer auf- und absteigenden Chromatik. Am Ende stand ein kerniges,
Gelächter auslösendes »Olé!«
»Festejos de Navidad« im Schreit- und im Wiegerhythmus erzählt von den Leckereien, die die Drei Könige dem Jesuskind bringen.
Nach dem Konzert durfte man Ähnliches aus der Chorküche auch selbst probieren. Lautmalerisch, mit einer immer wieder ins
Schräge abdriftenden Melodie erklang »Canto Negro«, gesungen von Martinez selbst. Das Stück beschreibt einen tanzenden
Schwarzen, der leider zu häufig zur Flasche greift.
Judit Ferrer begleitete den Chor bei einigen Stücken sensibel am Klavier und spielte als reines Instrumentalstück
ausdrucksstark einen Tanz aus Argentinien. Sein bravouröses Können auf der Violine stellte Rüdiger Müller-Nübling mit einem
schnellen Tanz aus Brasilien und dem huschig-humorvollen »Camundongo« (Hausmaus) unter Beweis.
Ein sehr gelungenes Konzert, das vom Publikum begeistert beklatscht wurde und natürlich noch eine Zugabe erforderte. (GEA)
Mit freundlicher Genehmingung des Reutlinger Generalanzeigers